Montag, 5. August 2013

Ausgerissen!

Meine Güte!! Was für eine Verzweiflung.

Nein, nicht Anni hatte sich abgesetzt, sondern unsere scheue, ängstliche Stubenmieze...

Katzen sind ja wirklich manchmal bescheuert. Gut, Hunde auch. Aber eine Katze, die sich in Not befindet, lässt sich nicht helfen, da handelt sie instinktiv wie ein wildes Tier. Kennt keine Freunde mehr.

Es war so: Am Sonnabend wollten wir abends ins Bett gehen, da fiel dem Lg plötzlich auf: "Wo ist eigentlich meine Katze?"

Tatsächlich. Die hatten wir seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen. Nun war es 23 Uhr. Wir suchten die Wohnung ab, guckten in jeden noch so kleinen Winkel - keine Mulle. Aber wegen der sommerlichen Hitze war das Schlafzimmerfenster, das zum Hof hinaus führt, weiter geöffnet als normal - und zwar schon seit einer Woche.

Damals hatte ich gleich zu bedenken gegeben: "Ist das nicht gefährlich, die Katz könnte raus?" Aber der Lg meinte, die haut schon nicht ab. Die Welt draußen macht ihr Angst, die kennt sie ja nicht. Und da hatte er recht, denn die Mulle ist ein Extrem-Schisser: Unbekanntes, Fremdes ist ihr unheimlich; unsere Besucher haben sie in 10 Jahren noch nie gesehen, denn wenn jemand Fremdes hier ist, versteckt Mulle sich unter meiner Bettdecke und kommt erst wieder raus, wenn die Luft nachweislich rein ist.

Und es ging ja auch tagelang gut mit dem Fenster, so dass wir es irgendwie vergaßen...

Aber nun, an diesem Samstagabend, kroch langsam die Erkenntnis in uns hoch, dass unsere Katze sich trotz allem davongemacht hatte. Weiß der Teufel, was sie geritten hatte!

Tja. Hinterher ist man immer schlauer.

Wir zogen uns wieder an und liefen auf den dunklen Hof. Riefen immerzu "Mullekind", "Miezi" und ähnliches, leuchteten unter das Auto, das dort geparkt stand, und auch in Gebüsch und Gestrüpp, fanden sie aber nicht.

Irgendwann gingen wir dann wieder ins Haus. So im Dunkeln war nicht viel auszurichten. Wir schliefen sehr unruhig in dieser Nacht und wachten am nächsten Morgen mit einem schweren Stein auf dem Herzen auf.

Wir verbrachten den größten Teil des Tages damit, aus dem Fenster nach der Katze zu rufen. Eigentlich erwarteten wir, dass sie plötzlich wieder unter dem Fenster sitzen und um Einlass bitten würde. Wir gingen noch einmal draußen herum, suchten alles ab. Der Lg hatte für den Nachmittag eine Verabredung, und obwohl er gar nicht so recht in Stimmung war, fuhr er dann doch los. In einem australischen Restaurant namens "Down Under" gibt es an bestimmten Tagen ein Angebot, da kann man so viele Hühnerflügel essen wie man runterkriegt, und die gibt es in ganz vielen, besonderen Geschmacksrichtungen. Das ist ja was für den Lg! Er trifft sich da mit Kollegen. Weil die alle im Schichtdienst arbeiten, ist es sehr schwierig, einen Termin zu finden, an dem alle Zeit haben und dann noch an einem Tag, an dem es dieses Angebot im "Down Under" gibt. Das planen die Monate im Voraus. Trotz der ungeklärten Mulle-Situation wollte er sich die Fressorgie dann doch nicht entgehen lassen.

Ich blieb alleine zu Hause mit Anni, lief später mit ihr die letzte Abendrunde, und bewaffnete mich dann mit einer großen Schere und der Taschenlampe. Damit ging ich wieder in den Hof. Der Lg hat nämlich zwei ungenutzte Motorroller dort stehen. Besonders der eine ist von Grünzeug fast zugewuchtert, und ich wurde den Gedanken nicht los, dass die Mulle sich vielleicht dort irgendwo verkrochen hatte.

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Ein großer Teil des Grünzeugs waren Brombeer-Ranken, Ihr wisst, die sind voller Dornen und Stacheln. Aber sie ließen sich zum Glück leichter wegschneiden, als ich gefürchtet hatte. Der Roller steht an eine niedrige Holzwand gelehnt, und es gibt da einen Hohlraum zwischen Gefährt und Wand. Ich leuchtete hinein - aber, keine Katze. Dafür hatte ich am Ende Schrammen an den Armen und Stacheln in den Händen. Na, was soll's man hat ja eine Pinzette.

Ich musste einsehen, dass sich an dieser Stelle keine Katze versteckt hatte. Der Lg kam spät nachts nach Hause, da konnte man auch nicht mehr viel tun. Wir mussten noch eine Nacht in Ungewissheit verbringen. Das ist ja das Schlimmste: Ständig das quälende Kopfkino. Man stellt sich alles Mögliche vor! Die Mulle, verletzt, vor sich hin sterbend, verreckend, verdurstend. Immerhin ist Hochsommer, und im Gegensatz zum vorigen Sommer ist dieser wirklich heiß.

Ein Kollege hatte dem Lg im Restaurant gesagt, dass wohl nicht viel Hoffnung bestünde, die Katze wieder zu bekommen. Der Spruch war ja nun echt entmutigend! Ich hatte so den Eindruck, dass der Lg daraufhin unwillkürlich resignierte. Aber ich konnte mich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden! Man weiß doch, dass Stubentiger nicht kilometerweit laufen, wenn sie ausnahmsweise mal nach draußen geraten. Das sind Höhlenflüchter. Die suchen sich das nächste Loch, viel zu klein, als dass irgend jemand reinpassen könnte - außer vielleicht ein Maulwurf - und warten darin ihr Schicksal ab. Und leider bleiben sie auch stumm. Den Lg verwirrte wohl am meisten, dass Mulle nicht antwortete, wenn wir sie riefen, denn normalerweise tut sie das. Die quatscht zurück, wenn wir mit ihr reden. Aber jetzt fühlte sie sich in Gefahr, und da ist es Katzenart, lieber den Schnabel zu halten. Du kannst zehn Zentimeter an ihrem Versteck vorbeigehen und dir die Lunge aus dem Hals rufen, die Katze hockt reglos da und starrt dich mit großen Augen durchs Gehölz an. Dabei würde ein einziger Piep das ganze Drama beenden! Wie gesagt, die Viecher sind manchmal echt blöd.

Der Hof hinter dem Haus wird von einer Doppelgarage begrenzt, da hat die Hochbahn zwei Werkstattwagen drin. (Hier sind die Autos gerade weg und die Tore geöffnet.)

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So gingen wir heute Morgen nach der Hunderunde los. Wieder mit einer großen Schere. An den Garagen vorbei, das ist die Wand links.
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Meine Güte, da ist früher nie so viel stacheliges Zeugs gewachsen, ich musste immer wieder Brombeerranken wegschneiden, weil ich sonst nicht hätte weitergehen können. Der Lg hatte weniger Probleme, weil er größer ist und längere Beine hat, und keine kaputten Knie. Diese Disteln hier sind etwa so groß wie ich. Das dicke Gras am Boden stellt einem immer wieder fiese Fußfallen.

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Mit der langen Schere teilte ich das Grünzeug und sah nach, was sich darunter versteckt hielt. Nichts. Bloß die Insekten brummten in der Hitze. Wir näherten uns langsam dem Ende des Grundstücks, für Menschen geht es nicht mehr weiter. Die Saselbek fließt dort, und zwar ziemlich tief unten; man muss aufpassen dass man nicht abstürzt. Da unten das Rinnsal, das ist sie. Nach der langen Dürre kaum noch zu erkennen:
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Der Lg war mir einige Schritte voraus. Jetzt kam er kaum noch weiter. Er blieb stehen und sah eine Weile umher, etwas länger, weil er nun nichts mehr tun konnte. Da wo der Pfeil ist, da war Ende Gelände.

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Und da sah er ein bisschen cremefarbenes Fell unter den grünen Blättern.


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"Da ist sie!! Ich hab sie!!"

Der Lg griff ins wuchernde Grün und hob die Mulle heraus. Die hing schlaff zwischen seinen Händen und guckte glasig mit riesigen runden Murmelaugen. 

Wir beeilten uns, in die Wohnung zu kommen, denn trotz des Griffs ins Nackenfell, der Katzen eigentlich erstarren lässt, wurde sie doch bald etwas zappelig. Endlich fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Klappe zu. Mulle in Sicherheit.

Nun konnten wir sie genauer betrachten. Sie hatte trockene Blätter im Pelz, aber sonst? Alles in Ordnung. Wir gaben ihr Futter und Wasser - sie aß vielleicht ein bisschen mehr als sonst, aber nicht wesentlich mehr. Sie trank Wasser, aber nicht wie mit Riesendurst. Obwohl sie fast zwei Tage lang draußen gewesen war - für ein zähes Wesen, das sieben Leben hat (oder gar neun??) ist so was ein Klacks.

Unsere Erleichterung ist kaum zu beschreiben.

Nachmittags wurde der Lg plötzlich sehr müde. Er legte sich eine Weile hin, endlich wieder mit seiner Katze an der Seite. Ich guckte leise um die Ecke. Da schliefen die beiden Liebenden wie die Engel.

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